Berufskolleg heute, was bedeutet das für Schüler*innen und Lehrer*innen? Bunt gemischte Klassen, Klientel mit und ohne Abschluss allgemeinbildender Schulen, ungleicher Bildungsstand, Defizite in ausbildungsrelevanten Kenntnissen, Alphabetisierungsbedarf bei Migranten*innen. All das stellt beide Seiten vor gewaltige Herausforderungen.
Die Wirtschaftsvereinigung für den Kreis Steinfurt und der Berufskolleg Rheine des Kreises Steinfurt diskutierten jüngst mit Dorothee Feller, NRW- Schul- und Bildungsministerin, über ausbildungsrelevante Themen. Darunter fielen die zunehmenden Defizite beim Lern- und Leistungsvermögen, steigende Bildungsansprüche, Integrationsarbeit, zeitgemäßes Lernen und der Anstieg psychischer Auffälligkeiten bei Kindern- und Jugendlichen. Zur Runde gehörten Unternehmensvertreter*innen ebenso wie Schüler*innen, Lehrer*innen, Schulpsychologen*innen und ein Repräsentant der Bezirksregierung Münster. WVS-Geschäftsführer Heiner Hoffschroer und Kollegleiter Benedikt Karrasch begrüßten die Teilnehmer*innen.
Grundsätzlich ist es in den meisten Branchen schwierig, Azubis zu gewinnen. Intensive Bemühungen gehören zur Tagesordnung. Es gab Zeiten, in denen Hauptschüler ohne große Probleme Elektroniker werden konnten. Doch mittlerweile sind ihre Mathematikkenntnisse in den meisten Fällen viel zu gering. Defizite gibt es aber auch im Elternhaus. Die Einbindung in handwerkliche Tätigkeiten, die zu Hause so anfallen, ist nur noch gering. Kenntnisse über Werkzeuge, die früher vorausgesetzt werden konnten, müssen in Berufsschule und Betrieben erst noch vermittelt werden. Viel Unterstützungsarbeit ist notwendig. Azubis, so wurde in der Diskussionsrunde deutlich, sind nicht selten gute Praktiker, doch in der Berufsschule kommen sie nicht mit. Spiegeln Noten tatsächlich die Fähigkeiten wider, die sie in ihre Ausbildungsberufen mitbringen“? Diese Frage tut sich zweifellos auf. „Ich schätze Berufskollegs ganz besonders, weil es große Systeme sind, die zahlreiche Bildungsmöglichkeiten anbieten“, betonte Ministerin Feller. „Darum wird hier besonders viel geleistet, nicht zuletzt auch Integrationsarbeit.“
Der IQB-Bildungstrend 2023 zeigt weiterhin: die sozialen Kompetenzen von Viertklässlern sind schlecht. Es gibt große Defizite in den Basiskompetenzen, deshalb sei zukünftig noch mehr Wert darauf zu legen. „Wir müssen das Lesen in den Mittelpunkt stellen“, so Feller. Lesen ist grundlegend für das Verständnis sämtlicher Inhalte, die in der Schule vermittelt werden. Allerdings: „Schule kann eine Menge, aber nicht alles leisten“, so die Ministerin. „Eltern haben auch ihre Aufgaben, etwa in der Wertevermittlung.“ Alarmierend ist nicht zuletzt der Befund, dass Kindern in bis zu 40 Prozent der Haushalte nicht mehr vorgelesen wird.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Migranten an Schulen ist die Alphabetisierung eine „Riesenbaustelle. „Wir versuchen alles, die jungen Menschen in den Schulbetrieb zu integrieren“, so Feller. Das sei eine Herausforderung, aber auch eine Chance.
Zunahmen psychischer Auffälligkeiten lassen die Frage aufkommen, ob Schulen und ausbildende Unternehmen in wachsendem Maße zu „Reparaturbetrieben“ werden. Lässt sich tatsächlich jeder Einzelne angemessen fördern? „Vieles, wie zum Beispiel Depressionen, gehört schon zur Normalität“, so eine Schulpsychologin. „Es gibt viel zu wenig Therapieplätze, im Kreis Steinfurt muss mit einer Wartezeit von einem Jahr gerechnet werden.“ Bei Beratungsstellen dauert immerhin bereitsein halbes Jahr, bis ein Termin frei wird. „Um kein falsches Bild zu vermitteln muss aber auch betont werden, dass natürlich nicht sämtliche Schüler unter psychischen Problemen leiden“, gab Ministerin Feller zu bedenken. Schulpsychologen könnten systemische Beratungen, aber nie eine Therapie geben. Grundsätzlich haben sich Einstellung und Belastbarkeit der Menschen im Laufe der Zeit gewandelt. „Wir müssen sehen, wie wir mit diesem Phänomen umgehen.“ Vorhandene Ressourcen müssten sinnstiftend gebündelt werden. Berater können auch in Betriebe integriert werden, um Auszubildenden und weiteren Mitarbeitern bei Problemen zur Seite zu stehen. Die Situation in Elternhäusern ist verschieden, Gleichgültigkeit wirkt sich in vielen Fällen jedoch negativ aus.
(Text: Rainer Nix)
(Fotos: Norbert Gaßner)